Neustadt – Die Lenkungsgruppe der Frühen Hilfen in Neustadt a. Rbge. hat einen Offenen Brief
verfasst und will damit auf die negativen Folgen des Lockdown für Kinder aufmerksam machen.
“Wir möchten wachrütteln und motivieren hinzuschauen, und wo es möglich ist aktiv Familien zu unterstützen. Kinder und Familien brauchen Gemeinschaft und Miteinander und da sind wir als Gesellschaft doch alle gefragt”, heißt es in der Einleitung. Lesen Sie hier den gesamten Text:
Ein Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Die Pandemie und die, durch den damit verbundenen Lockdown entstandene, soziale Isolierung, lassen genau das nicht zu. Kinder erhalten derzeit nicht die Möglichkeiten und Chancen, die sie für ein gesundes Aufwachsen und eine gute Entwicklung benötigen. Eltern sind am Rande ihrer Belastungsgrenzen.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nicht mehr möglich. Homeschooling, Homeoffice, Haushalt, gepaart mit räumlicher Reduzierung und sozialer Isolierung führt zu Spannungen, Stress und Überlastung bei allen Beteiligten. Der folgende Fall ereignet sich derzeit tausendfach in unserer direkten Umgebung:
Der 6-jährige Alex ist eigentlich ein ganz normales Kind mit ganz normalen Eltern, aus einer ganz normalen Stadt, mit einer ganz normalen Wohnung, mit ganz normalen Geschwistern. Was ist aber 2020 und 2021 eigentlich noch normal? Alex geht in den Kindergarten, eigentlich kommt er ganz gut mit. Gut, das mit dem Malen und Schneiden läuft nicht so richtig- aber Jungen haben halt keine Lust zu basteln, sagt der Papa. Beim Sprechen stößt Alex mit der Zunge an oder vertauscht Buchstaben. Wenn er Spabetti essen möchten, schmunzeln alle, ist ja auch niedlich.
Bisher waren diese „Auffälligkeiten“ auch gar nicht so schlimm. Aber seit ALLES im Lockdown ist- wird es irgendwie schlimmer!
Ja, mit den Einschränkungen im öffentlichen Leben, schränkt sich die Lebenswelt und somit das Lernfeld von Alex massiv ein! Es ist nicht nur die Kita geschlossen, in der Alex Lernfelder findet, welche eine Familie so nicht bieten kann. Er kann auch nicht mehr zum Fußballtraining, das Schwimmbad ist geschlossen, mit seinen Freunden kann er sich nicht verabreden- dabei hat er mit denen richtig tolle Tipis im Wald gebaut.
Oma hatte ihm versprochen, mit ihm endlich ins Eisenbahnmuseum zu gehen; darauf wartet er seit dem vergangenen Herbst. Alex Lebens-und Lernfeld reduziert sich gerade auf 70 Quadratmeter. Alles ist anders. Mama sitzt zu Hause, hat aber keine Zeit, weil sie immer am Computer sitzen muss. Sie sagt, sonst meckert ihr Chef.- sie hat Fristen. (allerdings denkt
Mama auch oft, dass sie noch zwei Kinder hat… aber sie kann sich nicht teilen… und
sie brauchen den Job. Die Mieten sind Wahnsinn.)
Papa sitzt auch am PC, wenn Alex mit ihm spielen möchte hat aber auch Papa keine Zeit… er sagt er muss arbeiten. Aber mit Jona, Alex 7-jährigen Bruder sitzt Papa immer am PC. Alex kann es nicht mehr hören: „Sei still, Jona macht Hausaufgaben. Jona ist im Homeschooling…“ Mama rennt zwischen Küche und Computer hin und her. Bloß nicht ansprechen… das weiß Alex mittlerweile. Dafür lacht jetzt auch keiner mehr, wenn er Spabetti sagt – Jetzt ist es nicht mehr niedlich, sondern falsch. Alex sagt einfach nichts mehr. Alles ist unter Hochspannung… er würde so gerne mal wieder raus! Seine Wut im Bauch ist so groß, dass er – wenn jetzt Fußballtraining wäre – die meisten Tore schießen könnte. Alle würden ihm zujubeln und Mama würde vielleicht auch mal wieder lächeln.
Endlich wäre er mal wieder der Gute! Aber es ist Corona- sagen die Erwachsenen. Kinder lernen nicht, weil wir ihnen Sachen zum Angucken und Üben geben! Kinder lernen, weil sie etwas tun dürfen, weil sie sich auseinandersetzen müssen – mit „Fremden“ mit Freunden mit anderen Gleichaltrigen mit Älteren, mit den Nahbaren, mit dem Fußballtrainer… sie dürfen die Bäume nicht nur im Buch sehen, sie müssen sie anfassen, sie müssen sie hören. Bildung ist viel mehr als Wissensvermittlung-Bildung muss erlebt werden. Bildung heißt (be-)greifen… Und das geht nicht auf 70 Quadratmeter.
Denn es braucht bekanntlich ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Es braucht nicht nur die Fläche, sondern die Interaktionen, das Gemeinschaftliche und das Miteinander und mehr als den elterlichen Einfluss. Was könnten wir als Arbeitgeber, als Nachbar, Tante oder Freunde der Familie tun? Ist es für einen Arbeitgeber nicht ein Leichtes, die Arbeitszeit für Eltern flexibler zu gestalten? Ist es für die Patentante möglich, mal was vom Einkaufen mitzubringen? Kann ein Freund der Familien Alex mit zum Spielplatz mitnehmen?
Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen! Und wir sind alle dazu aufgerufen, uns als Bewohner dieser Dorfgemeinschaft zu fühlen und danach zu handeln.
Für das Netzwerk der Frühen Hilfen in Neustadt am Rübenberge:
Anke Backhaus, Kitaleitung Ev. Kita Sonnenblume
Angela Sperling, Familienservicebüro Stadt Neustadt am Rübenberge
Janet Breier, Koordinatorin der Familien unterstützenden Projekte des Diakonieverbandes Hannover Land
Larissa Korpiun, Koordinierungszentrum Frühe Hilfen – Frühe Chancen Region Hannover
Jan Fehring, Koordinierungszentrum Frühe Hilfen – Frühe Chancen Region Hannover
NCN/ds